Otto König/Richard Detje: Deutsch-türkisches »Tauwetter« kann nicht über die Zunahme der Repression in der Türkei hinwegtäuschen

Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung

25.01.2018 | Der in der Türkei inhaftierte Journalist Deniz Yücel lehnt einen etwaigen Tauschhandel zwischen Berlin und Ankara für seine Freilassung ab, er wolle seine Freiheit nicht »mit Panzergeschäften von Rheinmetall oder dem Treiben irgendwelcher anderen Waffenbrüder befleckt wissen«. Der Welt-Korrespondent, der sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, und seit elf Monaten ohne Anklage in Untersuchungshaft sitzt, steht nicht für eine Kungelpolitik unter der Überschrift »deutsch-türkisches Tauwetter« zur Verfügung.

Seit Wochen geistern Begriffe wie »Entspannung«, »Wiederannäherung«, »Charmeoffensive« durch die Medien, wenn von den deutsch-türkischen Beziehungen die Rede ist. Währenddessen wachsen bei türkischen Emigranten und Oppositionellen die Sorgen vor politischen Deals zu ihren Lasten. Die anhaltende Repressionswelle und die Tatsache negierend, dass die Türkei seit dem »gescheiterten« Putschversuch im Juli 2016 mit Dekreten  regiert wird – wie zuletzt das Notstandsdekret, mit dem die Straffreiheit für Lynchmorde in der Putschnacht garantiert werden soll – und der Ausnahmezustand zum sechsten Mal verlängert wurde, stellte Außenminister Gabriel neue Rüstungsexporte in die Türkei in Aussicht. In einem Interview mit dem Spiegel signalisierte er dem Nato-Partner, die deutschen Rüstungslieferungen könnten wiederaufgenommen werden, wenn der Fall des inhaftierten Journalisten Deniz Yücel erst einmal gelöst worden sei.

Sollte der Autokrat Recep Tayyip Erdoğan mit der Lieferung von Rüstungsgütern belohnt werden, wäre dies nichts anderes als ein schmutziger Deal. »Die deutschen Inhaftierten sind Geiseln. Kauft Deutschland Geiseln mit schmutzigen Deals frei, fühlt sich Erdoğan ermutigt, gleich die nächsten Journalisten einzukerkern, weil seine brutale Methode funktioniert«, kritisierte Can Dündar, ehemaliger Cumhuriyet-Chefredakteur, diesen Vorgang in der Nordwest-Zeitung.

Was mit solchen Waffen passiert, zeigt der Einmarsch der türkischen Armee im Norden Syriens. »Operation Olivenzweig« heißt der Kampfauftrag – zynischer geht es nicht. Nachdem kurdische Verbände die Region in lang anhaltenden Kämpfen von IS-Milizen befreit hatten, wird die kurdische Bevölkerung erneut aus geostrategischen Gründen in Stich gelassen. Von Seiten der USA, die die Kurden im Kampf gegen den IS unterstützt hatten, heißt es nun lediglich, Militäroperationen gegen kurdische Milizen im Nordwesten Syriens sollten »zurückhaltend« ausgeübt und zivile Opfer möglichst » vermeiden« werden. Dem türkischen Autokraten sollen die USA bereits zugesichert haben, der kurdischen YPG keine Waffen mehr zu liefern. Erdogans Repressionsregime wirkt so ungebremst weiter – nach Außen wie im Innern.

Deniz Yücel war Mitte Februar 2017 in Istanbul in »Polizeigewahrsam« genommen und in Untersuchungshaft gesteckt worden. Seitdem sitzt der Journalist im Hochsicherheitsgefängnis Silivri außerhalb der Bosporus-Metropole und wartet auf seinen Prozess oder zumindest eine Anklageschrift. In einer Stellungnahme des türkischen Justizministeriums gegenüber dem Verfassungsgericht, bei dem Yücel Haftbeschwerde eingereicht hat, heißt es: Gegen den Journalisten seien belastende Beweise vorgebracht worden, »die dazu geeignet sind, bei einem objektiven Beobachter den Verdacht zu erwecken, dass der Beschwerdeführer Propaganda für eine bewaffnete Terrororganisation betrieben und das Volk zu Hass und Feindschaft aufgehetzt hat«.

Wie in anderen aktuellen Prozessen gegen Journalisten sind die Beweise gegen Yücel dürftig. Es spricht vieles dafür, dass seine beharrlichen Recherchen zum Unrechtsregime der AKP und Berichte über kompromittierende E-Mails des Schwiegersohns von Präsident Erdoğan die Ursache dafür sind, dass ihn die türkische Regierung als »politisches Faustpfand« behandelt. So hatte ihm Erdoğan gleich nach seiner Verhaftung vorgeworfen, ein »deutscher Agent« und »Terrorist« zu sein. Deniz Yücels über elf Monate andauernde Isolationshaft sei eine »Bestrafung vor dem Urteil«, so sein Anwalt Veysel Ok.
Diese Vorverurteilung entlarvt die ständigen Bekundungen von AKP-Ministern über die »Unabhängigkeit« der türkischen Justiz. Sie führt die Bemerkung des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu nach der Tee-Zeremonie Anfang Januar in Gabriels Wohnzimmer in Goslar ad absurdum, dass Deniz Yücel »kein politisch motivierter Fall« sei. Die Stellungnahmen des türkischen Justizministeriums sowohl an das Verfassungsgericht als auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte belegen, dass es »eine Lüge« ist, »dass die türkische Regierung in meinem Fall und im Fall vieler türkischer Kollegen bloß interessierter Beobachter sei«, so Yücel.

Dafür spricht auch der jüngste Konflikt über eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, die Freilassung der Journalisten Mehmet Altan und Şahin Alpay, die seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft sitzen, anzuordnen, da ihre Bürgerrechte verletzt worden seien. Dies sei »ein erster Schritt zur Stärkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei«, so Yücels Anwalt Veysel Ok. Doch die politische Antwort kam prompt. Das oberste Gericht habe »die Grenzen überschritten, die ihm durch die Verfassung und durch Gesetze auferlegt werden«, empörte sich Vize-Premierminister Bekir Bozdag. Deshalb fühle man sich »nicht an das Urteil gebunden«, zuständig seien die Strafgerichte. Prompt widersetzte sich das zuständige Strafgericht dem Präzedenzurteil der obersten Richter und ordnete die Fortsetzung der Haft der beiden Journalisten an.

Innenpolitisch wird die autokratische Herrschaft Erdoğans, die weder Meinungsfreiheit noch rechtsstaatliche Verfahren kennt, weiter ausgebaut. Für die Journalistin Mesale Tolu ist »politisch gesehen nichts sanfter und moderater geworden, im Gegenteil. Es wird vielleicht alles noch härter.«

Um das frostige Verhältnis zur Bundesregierung zu verbessern, entließ die türkische Justiz in den vergangenen Wochen mehrere deutsche Staatsbürger wie den Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner, den Kölner Wissenschaftler Garo Sharip und die Journalistin Mesale Tolu  aus der Untersuchungshaft. Für Außenminister Sigmar Gabriel Grund genug, beim Treffen mit seinem Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu zu verkünden, sie würden den Wirtschaftsministern beider Länder »empfehlen, die nächste Tagung der deutsch-türkischen Wirtschaftskommission einzuberufen«. Zudem würden die Außenministerien ihren »strategischen Dialog« und die Sicherheitsbehörden beider Länder ihre »Konsultationen«  wiederaufnehmen.

Die im kommenden Jahr anstehenden Wahlen in der Türkei, mit denen Erdogan sein Präsidialsystem vollenden will, als auch die aktuellen wirtschaftlichen Probleme des Landes sind die Hintergründe für die Neuentdeckung der »alten Freunde« in Europa. Die türkische Lira verliert kontinuierlich an Wert, die Inflation ist auf Rekordniveau, die Arbeitslosigkeit hoch, der innertürkische Bauboom abgeflaut; der Tourismus hat empfindliche Einbußen zu verkraften und europäische Unternehmen haben auch wegen fehlender Rechtssicherheit ihre Investitionen im Land gedrosselt.

Aus Sicht der Bundesregierung wiegt schwer, dass die Türkei außenpolitisch auf einen regionale Vorherrschaft beanspruchenden Kurs setzt und dabei zunehmend mit Russland, aber auch mit China kooperiert. »Daran können wir kein Interesse haben«, pflichtet der SPD-Außenpolitiker Nils Annen im Deutschlandfunk seinem Parteikollegen Gabriel bei. Je enger die Türkei mit Russland kooperiert, desto weniger dürfte sie für die deutsche Mittelostpolitik zur Verfügung stehen; je dichter ihre Kontakte nach China sind, desto schlechter die Absatzchancen für die deutsche Exportindustrie. Vor diesem Hintergrund spricht einiges für die Einschätzung von Günter Seufert von der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP), die deutsche Regierung habe gesehen, dass »das Regime Erdogan sich nicht so schnell ändert, sondern sich verfestigt« hat und dies habe wohl zu der Einsicht geführt, dass man trotzdem »mit dem Land kooperieren muss, weil man eben entsprechende (geostrategische) Interessen hat« (DW, 17.1.2018).

Doch was ist der Preis? Dies fragen sich derzeit nicht nur die demokratischen Oppositionskräfte in der Türkei. Solange der Ausnahmezustand herrscht und die demokratische Linke wie die Partei der Völker (HDP) systematisch zerschlagen wird, Wissenschaftler wegen einer Unterschrift unter einem Friedensaufruf angeklagt werden und über 150 Journalisten in Gefängnissen sitzen, ist es inopportun, von deutscher Seite aus ohne Skrupel zur »Normalität« zurückzukehren.

Selbst wenn alle inhaftierten deutschen und deutsch-türkischen Staatsbürger entlassen werden, darf der politische Druck auf die Türkei wegen der harten Repressionen gegen die eigene Bevölkerung nicht verringert werden. Erst mit der Wiederherstellung rechtsstaatlicher Prinzipien kann es Fortschritte geben. Statt über »Tauschgeschäfte« nachzudenken, muss die Bundesregierung weiterhin gegenüber Präsident Erdogan und der AKP-Regierung fordern, den Ausnahmezustand aufzuheben, die Rechte der Parlamentarier wieder in Kraft zu setzen, die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Presse wiederzuherstellen sowie die zu Unrecht inhaftierten Journalisten und politischen Gefangenen freizulassen.

Von: mf

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