Otto König/Richard Detje: Tarifbíndung – Abwärtstrend stoppen

Gerechtigkeitsfrage Nr. 1

04.06.2018 | Der Druck von 1,5 Millionen Warnstreikenden und nicht zuletzt die 24- stündigen Tagesstreiks brachten Anfang des Jahres den Durchbruch in der Metalltarifrunde: Für 3,9 Millionen Beschäftigte konnte die IG Metall gegen den Widerstand der Metallarbeitgeberverbände ein Ergebnis erringen, das nicht nur zu einem kräftigen Anstieg der Reallöhne und eine Umverteilung zugunsten der Beschäftigten führte, sondern auch ein tarifvertragliches Recht auf »kurze Vollzeit« für alle und einen Zuschlag für Beschäftigte mit Kleinkindern bzw. pflegebedürftigen Angehörigen sowie für Schichtarbeiter*innen beinhaltet.

"Tarifgebundene Beschäftigte"

"Tarifgebundene Betriebe"

Dieser Tarifabschluss unterstreicht die Bedeutung der Tarifautonomie – eine tragende Säule des tariflichen Regulationsmodells zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zur Lohnfindung und Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Der Flächentarifvertrag ist eine der grundlegenden institutionellen Machtressourcen, nicht nur für Gewerkschaften, sondern auch für Arbeitgeberverbände. Die damit verbundene Tarifbindung sorgt für höhere Entgelte der Arbeitnehmer*innen sowie für geringere Abstände zwischen den Tätigkeitsniveaus und trägt bei der Entlohnung von Frauen und Männern zu mehr Gerechtigkeit bei. Zugleich schaffen Tarifverträge einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten in der Branche und Region. Für Betriebe und Unternehmen ergibt sich eine gesicherte Planungsgrundlage, weil während der Laufzeit der Verträge »tarifvertraglicher Frieden« herrscht.

Allerdings ist in der neoliberalen Welt des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus die Regulations-und Steuerungsfunktion des Flächentarifvertrags zunehmend bedroht. Die Bereitschaft der Unternehmen, die Tarifbindung zu akzeptieren, war bis in die 1990er Jahre in Deutschland recht ausgeprägt. Nach Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von Daten, die im Rahmen des IAB-Betriebspanels, einer jährlichen Befragung von 15.500 Betrieben über alle Wirtschaftszweige und Größen hinweg erhoben werden,[1] hatten 1998 noch 77% der westdeutschen und 63% der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben gearbeitet, in denen branchenweit oder für einzelne Betriebe verbindliche Tarifvereinbarungen zur Anwendung kamen.

Seitdem entziehen sich immer mehr Betriebe der tarifvertraglichen Bindung. Entsprechend ist die Tarifbindung in Ost- wie in Westdeutschland seit Jahren rückläufig. Auch wenn dieser Erosionsprozess schleichend verläuft, hält der Trend zur Flucht von Unternehmen in tarifvertragsfreie Zonen unvermindert an. Das austarierte System der Lohnfindung und der Einfluss von Gewerkschaften wird unterlaufen. Für die Beschäftigten wird damit der Schutzschirm gegen unfaire Entlohnung und miserable Arbeitsbedingungen immer löchriger.

Laut Auswertung der aktuellen Betriebsbefragung des IAB ist die Zahl der durch einen Flächentarif erfassten Beschäftigten trotz des anhaltenden Aufschwungs erneut gesunken.[2] Nur noch 49% der West-Beschäftigten arbeiten in tarifgebundenen Betrieben – im Osten 34%. Hinzu kommen acht Prozent der westdeutschen und zehn Prozent der ostdeutschen Beschäftigten, die unter dem Schutz von Firmen- oder Haustarifverträgen arbeiten. Seit 1996 ist dies ein Minus um 21 (West) und 22 (Ost) Prozentpunkte.

In den Jahren 2012 bis 2015 gab es eine gewisse Hoffnung, dass sich der Abwärtstrend abgeschwächt hatte und damit das Phänomen der Tarifflucht eingedämmt sei. Doch die aktuell veröffentlichten Daten für 2017 zeigen ein anderes Bild: Für rund 43% der westdeutschen und 56% der ostdeutschen Arbeitnehmer*innen gibt es keinen Tarifvertrag. Seit 2015/16 ist die Tarifbindung zunächst im Osten, dann auch im Westen wieder rückläufig. Nur ein kleines Trostpflaster bleibt: Von den nicht-tarifgebundenen Beschäftigten partizipieren knapp die Hälfte (West: 50%, Ost: 45%) indirekt von Tarifverträgen, da sich die Betriebe, in denen diese Beschäftigten arbeiten, nach eigenen Angaben an den jeweiligen Branchentarifverträgen orientieren. Doch das kann in der Praxis alles Mögliche bedeuten – meist liegen diese Regelungen unter dem Tarifvertragsniveau.

Der tarifliche Deckungsgrad sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern steigt mit der Betriebsgröße, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Während Branchentarifverträge für Kleinbetriebe eine untergeordnete Rolle spielen, sind Großbetriebe mit 200 und mehr Beschäftigten in der Mehrheit tarifgebunden. Ebenso nimmt die Bedeutung der Haus- oder Firmentarifverträge mit steigender Betriebsgröße zu. Insbesondere in ostdeutschen Großbetrieben mit 500 und mehr Beschäftigten spielen Firmentarifverträge eine große Rolle.

Der Schwund der tariflichen Bindung zeigt sich vor allem in der Privatwirtschaft: Dort liegt sie bei nur noch 43% im Westen und 27% im Osten. Erosionserscheinungen im Arbeitgeberlager, zurückgehende Organisationsgrade der Arbeitnehmer*innen sowie zunehmende betriebliche Umstrukturierungsprozesse im Bereichen der Wertschöpfungskette, die auf Outsourcings-Strategien und neue Geschäftsmodelle des Lohndumpings zur Profitmaximierung – basierend auf Leiharbeit und Werkverträgen – setzen, beschleunigen den Sinkflug.

Die Unterschiede von Branche zu Branche sind enorm: Während die Tarifbindung bei den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, im Baugewerbe, bei Erziehung und Bildung, Bergbau, Energie- und Wasserversorgung weit über dem Durchschnitt liegt, fallen vor allem das Gastgewerbe, der Handel bzw. der Bereich Information und Kommunikation deutlich ab. Auf den ersten Blick erscheint der öffentliche Sektor noch relativ stabil. Doch in diesem Bereich gibt es insbesondere in der Altenpflege bzw. in kirchlichen Einrichtungen per se tarifvertragsfreie Zonen.

Hinsichtlich der Ursachen für die sinkende Tarifbindung gibt es unterschiedliche Einschätzungen, die IAB-Erhebung selbst liefert dazu keine näheren Hinweise. Ein Grund ist auf den Strukturwandel in der der Wirtschaft zurückzuführen. So sind beispielsweise in jungen Internet- und Dienstleistungsunternehmen, den sogenannten »Start-Ups«, Gewerkschaften kaum vertreten. Hinzu kommen die ungeklärten Rechtsfragen im Zuge der Digitalisierung im Bereich der »Plattform-Ökonomie«.

So betrachten sich zum Beispiel die Dienstleistungsplattform »Uber« bzw. die Online-Lieferdienste Deliveroo und Foodora nicht als Arbeitgeber, sondern nur als Vermittler tausender soloselbstständiger Fahrer – mit der Folge, dass keine Sozialbeiträge abgeführt werden und es weder Urlaub noch eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt. Das neue »digitale Proletariat« – die Solo-Selbständigen, ob Crowd- und Clickworker, Uber-Fahrer und Fahrradkuriere – werden erbärmlich entlohnt und haben fast keinen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz. Entsprechend forderte der 21. Bundeskongress des DGB Mitte Mai die Tarifbindung auch auf die mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland, die in der Plattform-Ökonomie arbeiten, auszuweiten.

Die Gewerkschaften werfen den Arbeitgeberverbänden vor, ihren Mitgliedsfirmen einen Ausstieg aus den Tarifverträgen zu leicht zu machen. »Wenn die Tarifbindung steigen soll, dann müssen die Unternehmen die Mitgliedschaft in einem Tarifverband als Vorteil empfinden«, sagte Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander. Zugleich warnte er vor Flächentarifen, die das verfügbare Arbeitszeitvolumen zu stark einschränken und einfache Arbeit zu teuer machen und intonierte die altbekannte Melodie vom »wettbewerbsfähigen Tarifvertrag«.

Die Tarifbindung steht für die Gewerkschaften ganz oben auf der Agenda. Um einer weiteren Erosion des Tarifsystems entgegenzuwirken, gibt es zwei Ansätze: Zum einen wäre da die Ausweitung der im Tarifvertragsgesetz geregelten gesetzlichen Möglichkeiten, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. So will beispielsweise die Große Koalition in Berlin in der Pflege auf die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen setzen. In der Pflegebranche gibt es viele kleine Firmen, aber keinen Arbeitgeberverband mit robustem Verhandlungsmandat. Und die kirchlichen Träger haben ihr eigenes arbeitsrechtliches Konstrukt namens »Dritter Weg«. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD heißt es dazu: »Wir wollen die Bezahlung in der Altenpflege nach Tarif stärken. Gemeinsam mit den Tarifpartnern wollen wir dafür sorgen, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen (…). Dafür schaffen wir die gesetzlichen Voraussetzungen.«

Zum anderen gilt es nach wie vor, den Sumpf der tarifvertragsfreien Zonen trocken zu legen und Betriebe zurück in die Tarifbindung zu streiken. Für die IG Metall ein maßgeblicher Grund, nicht nur ihre Kampagnen gegen prekäre Arbeit – für die Einschränkung von Leiharbeit und Werkverträgen – fortzuführen, sondern in Tarifrunden und danach in »Häuserkämpfen« in nicht-tarifgebundenen Betrieben für die Beendigung des tariflosen Zustands zu mobilisieren.

Das setzt die Stärkung gewerkschaftlicher Organisations-, Widerstands- und Durchsetzungskraft voraus. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten die Organizing-Projekte wie die »Gewerkschaftlichen Erschließungprojekte« (GEB) in Schwerpunktbetrieben bzw. neuen Branchen. Sie setzen am Interesse der Beschäftigten für starke Gewerkschaften an, ohne deren Durchsetzungskraft keine positiven Tarifabschlüsse möglich sind. Die Tarifbindung zu einer zentralen tarifpolitischen Aufgabe zu machen, ist für den IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hoffmann die »Gerechtigkeitsfrage Nummer eins«.


[1] Aufgrund des Aufbaus der Stichprobe sind die Resultate repräsentativ für 2,1 Millionen Betriebe mit sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.

[2] Vgl. Susanne Kohaut: Tarifbindung – der Abwärtstrend hält an, IAB Forum 24.5.2018.

Von: mf

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