Otto König/Richard Detje: Metall-Tarifrunde 2018 – ein Signal über die Branche hinaus

Kein Anlass, den Fuß vom Gas zu nehmen

19.01.2018 | Gewerkschaftspolitisch hat das neue Jahr mit einem tarifpolitischen Konflikt begonnen, der gesellschaftspolitische Dimensionen entweder im Sinne eines Roll back oder arbeitszeitpolitischen Fortschritts in sich trägt. In der Tarifrunde 2018 der Metall- und Elektroindustrie geht es nicht nur um Geld. Es geht auch darum, 3,9 Millionen Beschäftigen mehr Souveränität über ihre Arbeitszeit zu verschaffen – mehr Freiräume für die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen sowie Humanität bei belastenden Arbeitsbedingungen wie Schichtarbeit.

Die IG Metall fordert: Sechs Prozent mehr Entgelt und die Möglichkeit der Reduzierung der Arbeitszeit auf bis zu 28 Wochenstunden mit einem Teilentgeltausgleich für Schichtarbeiter, Eltern mit Kindern unter 14 Jahren und Beschäftigte mit pflegebedürftigen Angehörigen sowie ein Rückkehrrecht auf Vollzeit. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall bot daraufhin Ende vergangenen Jahres eine Einmalzahlung von 200 Euro für das erste Quartal 2018 sowie ab dem 1. April 2018 ein Lohnplus von zwei Prozent für eine zwölfmonatige Laufzeit an, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Ausweitung der Arbeitszeiten bis auf die 40-Stunden-Woche ermöglicht und Mehrarbeitszuschläge gestrichen werden. Die damit intendierte weitere Aushebelung der 35-Stunden-Woche hatte der Sachverständigenrat im Bundestagswahlkampf auf seine Fahnen geschrieben und die FDP in den Jamaika-Verhandlungen gepuscht.

Die Forderung nach einer »kurzen Vollzeit« zielt mitten hinein in die gesellschaftliche Debatte über die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Sie ist nicht aus der Luft gegriffen: In einer breiten Befragungsaktion hatten Gewerkschaftsmitglieder wie Nicht-Mitglieder aus der Metall- und Elektroindustrie die Wiederaufnahme einer offensiven Arbeitszeitpolitik angemahnt. Gerade unter jüngeren Arbeitnehmer_innen genießt die Tarifforderung Unterstützung; sie wissen, dass es unmöglich ist, die Gründung einer Familie oder die Pflege von Angehörigen mit dem enormen Stress eines Vollzeitjobs zu verbinden. »Das Zuhause der Menschen ist heute anders organisiert als früher, in aller Regel arbeiten beide Partner«, begründet Enzo Weber, Mitarbeiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die gestiegene Nachfrage nach zeitsouveränen Arbeitszeitmodellen.

Die Metallarbeitgeber reagierten mit der Verweigerung von ernsthaften Verhandlungen. Eine massenhafte Inanspruchnahme koste Arbeitszeit in der Größenordnung von 200.000 Vollzeitstellen und dies vor dem Hintergrund eines »Fachkräftemangels«,[1] moserte Gesamtmetall-Geschäftsführer Oliver Zander. Der geforderte Lohnausgleich wirke wie »eine Stilllegeprämie für Fachkräfte«. Und der Chef von Gesamtmetall, Rainer Dulger, assistierte mit der unsäglichen Bemerkung, »mehr Geld für nichts tun wird es mit uns nicht geben«.

Natürlich verwundert die Reaktion der Kapitalseite nicht, denn für diese ist Flexibilität nur sinnvoll, solange sie den unreglementierten Zugriff auf die Arbeitskraft der Werktätigen erlaubt. Die Forderung der Beschäftigten nach mehr »Zeitsouveränität« gilt dagegen als »Bedrohung der Wettbewerbsfähigkeit«. BDA-Präsident Ingo Kramer: »Es geht nicht, dass der Arbeitnehmer allein entscheidet, wann er wie viel arbeiten will.« Das ist – gelinde gesagt – ein Statement aus vordemokratischen Denktraditionen. Die Arbeitgeber-Argumentation zieht sich wie ein roter Faden durch alle Auseinandersetzungen um die Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen seit dem 19. Jahrhundert. Das haben die Unternehmer vor der Einführung des 8-Stunden-Tages, der 40- und schließlich der 35-Stunden-Woche bzw. des Mindestlohnes genauso beschworen wie heute. Zum Untergang der Wirtschaft hat das nicht geführt.

Eines haben die laufende Tarifrunde und die stundenweisen Warnstreiks, an denen sich seit Ende der Friedenspflicht über 448.000 Beschäftigte (Stand: 16.1.) in nahezu 2.200 betrieblichen Aktionen beteiligt haben, schon gebracht: Die große juristische Schlacht um die Tarifforderung der IG Metall wird es nicht geben. Die Arbeitgeber rüsteten ab und verzichten auf die rechtliche Durchsetzung ihres »bestellten Rechtsgutachtens«, in dem der Münsteraner Arbeitsrechtler Clemens Höpfner die Forderung nach einem Entgeltzuschuss und die Warnstreiks, um diesen durchzusetzen, als »rechtswidrig« einstufte. Südwestmetall-Chef Stefan Wolf hat mittlerweile den Rückwärtsgang eingelegt: Der Tarifstreit müsse am Verhandlungstisch gelöst werden. Es mache keinen Sinn »weder für die Unternehmen, noch für die Beschäftigten, sich in ellenlange Rechtsdiskussionen zu begeben.«

Die Warnstreiks sind – so der baden-württembergische Bezirksleiter Roman Zitzelsberger – die entscheidende Voraussetzung, dass die Arbeitgeber, die bisher nicht über die aus ihrer Sicht »rechtswidrigen« Arbeitszeitwünsche der Gewerkschaft reden wollten, bei der dritten Verhandlungsrunde in Baden-Württemberg ihre Blockadepolitik einkassierten und erstmals Gesprächen zur Arbeitszeitthematik zustimmten. Es sei in der Frage der Zeitsouveränität zugunsten der Beschäftigten »Bewegung erkennbar geworden«. Deshalb wurde eine Expertengruppe eingerichtet, der neben Vertretern der Tarifkontrahenten auch Fachleute aus den Betrieben angehören, die »das Verhältnis von Zeitsouveränität der Beschäftigten zu den Flexibilitätsansprüchen der Unternehmen durchdeklinieren« und konkrete Lösungsvorschläge unterbreiten soll.

Wie weit sich die Metallarbeitgeber tatsächlich bewegen, kann mit einer gehörigen Portion Skepsis gesehen werden. Die IG Metall solle Möglichkeiten aufzeigen, »wie wir das Arbeitsvolumen nach oben bringen können«, betonte Stefan Wolf. Will heißen: Wenn Beschäftigte länger arbeiten und damit von der 35-Stunden-Woche nach oben abweichen, »können wir auch darüber reden, wie Einzelne weniger arbeiten können«.

Liest man die Wirtschaftsspalten der Leitmedien, ließe sich das Arbeitszeitthema leicht lösen: Die IG Metall müsse nur zugestehen, dass die tarifvertraglichen Quoten für Beschäftigte, die bis zu 40 Wochenstunden arbeiten dürfen (maximal 13% in Baden-Württemberg und Bayern bzw. 18% in NRW), deutlich angehoben werden – und damit, um Klartext zu sprechen, die 35-Stunden-Woche zu Grabe getragen wird. Das Problem der IG Metall bestand bereits in der Vergangenheit darin, immer weniger Einfluss auf die Regulierung der Arbeitszeiten zu haben: In den Betrieben wurden die Arbeitszeiten über die Quotenregelung hinaus verlängert, Überstunden wurden je nach Auftragslage angeordnet und die Hälfte davon noch nicht einmal entlohnt. Die 35-Stunden-Woche verkam in etlichen Bereichen zu einer Norm ohne Realitätsgehalt. Das muss sich ändern und eben nicht noch verstärkt werden.

Für die Gewerkschaften sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der Tarifrunde 2018 exzellent. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist 2017 mit 2,2% so stark gewachsen wie seit sechs Jahren nicht mehr. Für das laufende Jahr prognostiziert das Ifo-Institut einen Zuwachs von 2,6%, das gewerkschaftsnahe IMK von 2,3%. Die Wachstumsraten der Industrie liegen noch deutlich darüber – mehr als sechs Prozent waren es im Schlussquartal 2017, plus sieben Prozent in der Metall- und Elektroindustrie. Deutschlands Exporteure steuern 2017 auf das vierte Rekordjahr in Folge zu.  Die Fabriken sind ausgelastet. Die Firmen verdienen prächtig, die Dax-Konzerne schütten Rekord-Dividenden aus. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeitgeber-Offerte eine Unverschämtheit: plus zwei Prozent ist eine Zahl, die sie den Shareholdern nicht vorzulegen trauten. Und um ein ökonomisches Argument nachzuschieben: Bislang liegt der Anstieg der Lohnstückkosten – aus denen die Unternehmerverbände die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Mitgliedunternehmen ableiten – weiterhin unterhalb der Rate des Inflationsziels der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent. Sie wirken damit nach wie vor eher deflationär als inflationär. Zu Zurückhaltung auch bei der Entgeltforderung kein Anlass. Nun wissen das auch die Arbeitgeber. Ihre Strategie scheint zu sein, erst in den entscheidenden Verhandlungsrunden beim Entgelt draufzusatteln, um bei der Arbeitszeit kurz zu treten.

Es gibt deshalb keine Veranlassung, den Fuß vom Gaspedal des Arbeitskampfs zu nehmen. Die Warnstreikwelle muss weiter rollen auch mit Blick auf den 24. Januar 2018, an dem im baden-württembergischen Böblingen erneut ein Anlauf zur Lösung des Tarifkonflikts gemacht werden soll. Dieser Termin ist mit Bedacht gewählt: Zwei Tage später kommt der IG Metall-Vorstand zusammen, um – sollte es keinen Tarifabschluss geben – über das weitere Vorgehen im Tarifkonflikt, z.B. die Ausrufung der »24-Stunden-Streiks«, zu entscheiden. In Zeiten voller Auftragsbücher kann das für die betroffenen Unternehmen sehr teuer werden.

Die erfolgreiche Durchsetzung der Tarifforderungen wäre gerade in Zeiten eines »politischen Rollback« ein großer Schritt der Ermutigung. Es wäre zukunftsweisend, wenn es der IG Metall gelingen würde, den Beschäftigen in der Metall- und Elektroindustrie mehr Souveränität über ihre Arbeitszeit zu verschaffen und zugleich ein Signal weit über die Branche hinaus.


[1] »Wenn es denn einen Fachkräftemangel gibt, wie es die Arbeitgeber behaupten, dann ist er selbst verschuldet«, so Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Von: mf

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