Otto König/Richard Detje: Hohe Abbrecherquote in Ausbildungsberufen

Abstimmung mit den Füßen

26.04.2018 | Aus dem Entwurf des Berufsbildungsberichts 2018 geht hervor, dass jede vierte Ausbildung in Deutschland frühzeitig beendet wird.[1] Demnach wurden 2016 gut 146.000 Ausbildungsverträge vorzeitig aufgelöst.

Die Vertragslösungsquote liegt mit 25,8% erstmals deutlich über den Quoten der vergangenen Jahre. Es sind vor allem die Branchen Hotel- und Gastronomie, das Sicherheitsgewerbe und das Friseurhandwerk, die die alarmierenden Abbrecherzahlen produzieren.

Am höchsten ist der Anteil bei angehenden Sicherheits-Fachkräften mit 50,6%, am niedrigsten mit 4,1% bei Auszubildenden (Azubis), die den Beruf des/der Verwaltungsangestellten erlernen. Bei Auszubildenden, die Koch, Restaurantfachkraft oder Friseur werden wollen, hört hingegen etwa jeder Zweite vor der Abschlussprüfung auf. Es ist die Kombination von schlechten Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen, miserabler Bezahlung und schlechtem Betriebsklima, die die jungen Beschäftigten mit den Füßen abstimmen lässt. Die Jugendlichen, die den Betriebe in diesen Branchen den Rücken zudrehen, geben deshalb jedoch nicht das Ziel auf, sich ausbilden zu lassen.

Schon der DGB-Ausbildungsreport[2] offenbarte 2017, dass sich über die Hälfte der Auszubildenden durch schlechte Ausbildungsbedingungen und -anforderungen stark belastet sieht. Zehn Prozent der Befragten beklagten, dass sie dauerhaft Arbeiten verrichten, die nichts mit ihrer Ausbildung zu tun haben. Ein Drittel der Auszubildenden hatte keinen betrieblichen Ausbildungsplan, sodass sie ihre Ausbildungsinhalte nicht selbst überprüfen können. Jeder siebte erhält keine fachliche Anleitung durch den Ausbilder. Fast die Hälfte aller Befragten wusste im letzten Ausbildungsjahr noch nicht, ob sie nach dem Anschluss übernommen werden.

Während in den Metall- und Elektroberufen wie Mechatroniker, Industriemechaniker, Elektroniker und Zerspanungsmechaniker sowie bei den Industriekaufleuten die Ausbildung als gut bewertet wurde, bekam die Ausbildung bei den Friseuren, im Lebensmittelhandwerk, bei den Hotelfachleuten und den zahnmedizinischen Fachangestellten ein mangelhaft. Die Zufriedenheit war vor allem in Betrieben (82%), in denen es einen Betriebsrat und eine Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) gibt, am höchsten.

Vor 50 Jahren – 1968 – waren es die gleichen Probleme, die dazu führten, dass Lehrlinge anfingen, sich organisieren und gemeinsam zu wehren. Auf der traditionellen »Freisprechungsfeier« der Handelskammer am 25. September 1968 für 3 000 Lehrlinge regneten in der Hamburger Börse Flugblätter auf Teilnehmer*innen und Gäste, in denen die Ausbildungsbedingungen junger Arbeiter*innen angeprangert wurden. Im Rahmen der von der »Arbeitsgemeinschaft der Lehrlinge für eine bessere Berufsausbildung« Anfang November 1968 organisierten ersten Lehrlingsdemonstration zogen mehr als 1000 Teilnehmer*innen mit Parolen wie »Brauchst du einen billigen Arbeitsmann, schaff dir einen Lehrling an« durch die Hamburger ­City. Das war der Auftakt von Protestaktionen, die auf dem Höhepunkt der Lehrlingsbewegung 1971/72 von rund 150 selbständigen bzw. gewerkschaftlich orientierten Lehrlingszentren[3] organisiert wurden.

In der damaligen Bundesrepublik wurden gewerbliche Lehrlinge noch nach der Gewerbe-ordnung des 19. Jahrhunderts ausgebildet, für kaufmännische Lehrlinge galt vorwiegend das Handelsgesetzbuch. Da einheitliche Standards fehlten, war die Qualität der Ausbildung von Betrieb zu Betrieb sehr unterschiedlich. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen, insbesondere in Handwerksbetrieben sowie in Hotels und Gaststätten waren Auszubildende weitgehend entrechtet. Der Protest der Lehrlinge hatte unter anderem das Verbot ausbildungsfremder Tätigkeiten, die Überführung der Ausbildung aus den Betrieben in staatliche Einrichtungen und Schulen, neue gesetzliche und vertragliche Grundlagen der Ausbildung, ein garantiertes Mindesteinkommen und ein Streikrecht für Lehrlinge zum Ziel.

Die Lehrlingsbewegung und die in diesem Zusammenhang reanimierte Gewerkschaftsjugend trugen durch ihre Aktionen wesentlich mit dazu bei, dass die SPD/FDP-Regierung auf Druck der Gewerkschaften 1969 das Berufsbildungsgesetz (BBIG) verabschiedete, das zum ersten Mal zentrale Fragen der Ausbildung wie etwa die Rechte von Auszubildenden, die Eignung von Ausbildungsstätten und Ausbildern sowie die Ordnungsverfahren der dualen Berufsausbildung gesetzlich regelte, die bis heute die Grundlage der dualen Ausbildung bilden.

50 Jahre später – 2018 – fordert der DGB nachdrücklich eine zügige Überarbeitung dieses Berufsbildungsgesetzes. »Wir (stellen) erhebliche Missstände in der Ausbildungsqualität fest, ohne dass es relevante Verbesserungen gegeben hätte. Wenn die Betriebe es nicht hinbekommen, die duale Ausbildung zu verbessern, muss die Politik handeln«, erklärte der DGB-Bundesjugendsekretär Florian Haggenmiller anlässlich der Präsentation des Ausbildungsreports. Es gehe darum, in allen Berufen für junge Menschen Zukunftsperspektiven zu entwickeln, die Qualität der Ausbildung zu verbessern und eine angemessene Ausbildungsvergütung in allen Branchen durchzusetzen.

In dem von der Süddeutschen Zeitung zitierten Entwurf des Berufsbildungsberichts werden mehrere Gründe für die hohen Abbrecherquoten angeführt, wie Konflikte mit Vorgesetzten, eine mangelnde Ausbildungsqualität, ungünstige Arbeitsbedingungen sowie falsche Berufsvorstellungen. Die Betriebe hingegen führten wie nicht anders zu erwarten »überwiegend mangelnde Ausbildungsleistungen der Auszubildenden« wie auch deren fehlende »Motivation oder Integration in das Betriebsgeschehen« an, heißt es in der Analyse. Außerdem könnten junge Menschen wegen des gestiegenen Angebots an Ausbildungsstellen eher bereit sein, in ein anderes Ausbildungsverhältnis zu wechseln. Eine Vertragsauflösung bedeute keinesfalls unbedingt den Abbruch der gesamten Berufsausbildung.

Der stellvertretenden DGB-Vorsitzende Elke Hannack zufolge sind »die Abbrecherquoten extrem hoch«, wo die Vergütung besonders niedrig sei. Deshalb solle die GroKo die im Koalitionsvertrag vereinbarte Mindestvergütung für Azubis schnell umsetzen. Sie soll in einer überarbeiteten Fassung des Berufsbildungsgesetzes enthalten sein, das bis 2020 in Kraft treten soll. Die Gewerkschaften wollen erreichen, dass der Mindestlohn für Azubis bereits 2019 Wirklichkeit wird. Die Eckpunkte des DGB sehen vor, dass der Azubi-Mindestlohn auf 80% der durchschnittlichen tariflichen Vergütung steigen soll. Das wären aktuell im ersten Jahr 635 Euro monatlich, im zweiten 696 und im dritten 768 Euro. Profitieren würden davon rund 160.000 Auszubildende, die heute weniger erhalten – das wären etwa zwölf Prozent der insgesamt 1,34 Millionen Azubis im Land. So erhält etwa ein Bäckerlehrling im 1. Jahr nur 500 Euro, Friseure sogar nur 406.

Die Arbeitgeberverbände positionieren sich klar gegen eine gesetzlich geregelte Mindestvergütung. Allen voran hat sich der Arbeitgeberverband BDA jede Einmischung in die Lohnfindung verbeten: »Ob Mindestlohn oder Mindestausbildungsvergütung – beides ist nicht originäre Aufgabe der Politik.« Die Vergütung für Azubis dürfe nicht mit Lohn oder Gehalt verwechselt werden. Sie sei vielmehr »ein branchenangemessener Zuschuss zum Lebensbedarf«, erklärten Vertreter des BDA. Und Holger Schwannecke, Generalsekretär des ZDH, warnte: »Sollten Betriebe durch staatlich festgesetzte Mindestausbildungsvergütungen überfordert werden, würde sich das zwangsläufig negativ auf das äußerst breite Ausbildungsengagement gerade auch der kleineren Betriebe im Handwerk auswirken«.

Natürlich darf der Hinweis nicht fehlen, dass auch Eltern von Azubis kindergeldberechtigt sind, und um Auszubildende, die nicht mehr zu Hause wohnen, besserzustellen, »gibt es die Berufsausbildungshilfe der Bundesagentur für Arbeit (BA)«, erinnert Dirk Werner vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Allein im Jahr 2017 hätte die BA 286 Millionen Euro für die Unterstützung der Auszubildenden ausgegeben – im Jahr zuvor waren es 290 Millionen.

Natürlich ist die vom DGB angestoßene Debatte über eine Mindestvergütung für Auszubildende richtig und sinnvoll. Doch wer die Abbrecherquoten in der Ausbildung senken und den sogenannten Fachkräftemangel ernsthaft bekämpfen will, muss mehr tun. Das betrifft zum einen die Forderung nach einer Novellierung des Berufsbildungsgesetzes. Dazu gehören die Verankerung eines Rechtsanspruchs auf Ausbildung, das Recht auf Übernahme, Erhöhung der Ausbildungsqualität durch Ausbildungsordnungen auf dem Stand des digitalen Zeitalters, Förderung von Schwächeren, Ablehnung der Schmalspurausbildung, Modernisierung der Berufsschulen, Durchlässigkeit zur Hochschule, Ausbau und Anspruch auf existenzsichernde Ausbildungsvergütung.

Es bedarf des Drucks der DGB-Gewerkschaften auf die GroKo,[4] damit dieser Prozess endlich in Gang gesetzt wird. Dieses Thema darf nicht nur ein Thema der Gewerkschaftsjugend bleiben, sondern muss von der Gewerkschaftsbewegung insgesamt vorangetrieben werden. Vielleicht wäre es sinnvoll, auf dem anstehenden DGB-Bundeskongress im Mai mit Beiträgen an die lehrreichen Aktivitäten der Lehrlingsbewegung vor 50 Jahren zu erinnern, um den Tanker DGB in Bewegung zu setzen.

 


[1] Vgl. »Jeder vierte Lehrling wirft hin«, Süddeutsche Zeitung, 4.4.2018.

[2] Im Ausbildungsreport befragt die DGB-Jugend jährlich die Auszubildenden nach ihrer Zufriedenheit mit der Qualität der Ausbildung. An der repräsentativen Befragung haben sich 12.000 Auszubildende aus den laut Bundesinstitut für Berufsbildung 25 häufigsten Ausbildungsberufen beteiligt.

[3] Vgl. Otto König: Selbstorganisation in einer Kleinstadt, in: Haug/Maessen, Was wollen die Lehrlinge, Fischer Bücherei März 1971; Oswald Todtenberg/Arno Ploog: Du gehörst dir und nicht den Bossen. Ein Buch für Lehrlinge, EVA, Frankfurt a.M. 1971.

[4] Die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD verabredete schon 2013 im Koalitionsvertrag, »Anpassungen des BBIG (zu) prüfen«. Das zuständige Ministerium stellte jedoch in ihrem Evaluierungsbericht in der abgelaufenen Legislaturperiode »keinen Änderungsbedarf!« fest

Von: mf

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